Mit Lyrik habe ich - wie wahrscheinlich die meisten Autoren und Autorinnen - angefangen; mit Lyrik werde ich auf dem Totenbett wahrscheinlich auch enden. Es ist die Gattung der geringsten Ressourcenbeanspruchung und der grössten Resistenz; man kann ein Gedicht schreiben nur mit einem Stück Papier und unter unerträglichen Schmerzen noch, Gedichte haben Konzentrationslager überlebt, während die Häftlinge und die Wärter zugrunde gingen oder hingerichtet wurden. Die Stärken dieser Gattung sind aber auch ihre grösste Gefahr, denn weil man ein Gedicht so schnell schreiben kann, gibt es wohl 1000 mal mehr "Lyriker" oder "Lyrikerinnen" als gute Gedichte; keine Kunstform hat wahrscheinlich so viel über sich ergehen lassen müssen wie diese. Nun, jeder Lyriker, jede Lyrikerin wird behaupten, dass nun gerade die eigenen Gedichte nicht zum Abfall der Posie gehören, das ist das mühsame Verwirrspiel.


Vor langer Zeit habe ich meinen ersten Gedichtband "Die Minderheit des Ichs" fertig gestellt. Anbei zwei Gedichte daraus, die bereits in einer Anthologie bzw. einer Literaturzeitschrift veröffentlicht worden sind:



Marktplatz Maikinder

Es würde sein

dasselbe Café

am Rande der Zeit

derselbe Marktplatz

unter deinem streunenden Schritt

dasselbe Strassenklavier

Weltschmerz bügelnd

in die

Sperrzone zwischen

Schädel und Hirnhaut

dieselbe Bettlerin

im Stadtbrunnen treibend

derselbe Duft

von Zimtkuchen und Glühwein

Hunnen würden einfallen

die Marktschreier

zu pfählen.

Maikinder

fiebern dem Sommer entgegen.

Der Hunger kommender Winter

sitzt tief: Sie schlafen mit

Brotlaiben

in ihrem Arm.


Alles an ihnen ist Duft.

Selbst ihr Auswurf

kennt seine eigene Mildheit.

Wenn sie auskühlen nachts

schreien sie lang nicht. So will ihr

Gesetz.

Kaum mancher

versteht ihre Zeichen.

Man legt in den Jahren der Dürre

ihre Körper

einem Alten

mit in sein Grab.

Solcherart

sind sie

behütet.

In: Lyrik der Gegenwart. Feldkircher Lyrikpreis 2008. Kronabitter, E. (Hrsg.), Edition Art Science (2008): S. 127-131.

In: Passauer Pegasus Nr. 40 (2003), S. 34.

Nachdruck etc. nur mit Genehmigung des Autors